Heute ist der 125ste Geburtstag einer der wichtigsten Erfindungen des Industriezeitalters. Da wird sicher von vielen Leuten allerhand Wichtiges und Bedeutsames gesagt werden. Vielleicht wird nebenbei auch wieder eine Geschichte aufgewärmt, die schon seit Jahren in den Medien auftaucht. EIne nette Geschichte – aber ist sie auch glaubwürdig?
Grundlage ist die unbestrittene Tatsache, dass ein Team begabter Ingenieure bei den Automobilwerken VEB Sachsenring in Zwickau Mitte der 1960er Jahre Prototypen für potenzielle Nachfolgemodelle des bekannten Modells Trabant 601 entwickelte. Eins dieser Modelle trug die interne Entwicklungsbezeichung P603. Es wirkte mit seiner Schrägheckkarosserie modern und zukunftsweisend. 1967 wurde jedoch auf ministerielle Weisung seine Entwicklung, die anscheinend nicht von höchster Stelle autorisiert worden war, eingestellt. Die Verschrottung der Prototypen wurde angeordnet. Der P603 hatte wie der 601 eine Duroplast-Außenhaut auf Stahlgerippe und einen Zweitaktmotor, auch wenn anscheinend an Alternativantriebe wie Wankelmotoren oder importierte Viertaktmotoren von Škoda gedacht wurde.
Eine weitere unbestrittene Tatsache ist, dass der Volkswagen-Konzern Anfang der 1970er Jahre in großen Schwierigkeiten steckte. Den Käfer und seine auf luftgekühlten Heckmotoren basierenden Nachfolger wollten die Kunden nicht mehr, den fälligen Modellwechsel hatte man verschlafen. Zum Glück für das Unternehmen gehörte ihm seit 1964 das Traditionsunternehmen Auto Union mit seinen viel moderneren Produkten, das mit der 1969 erworbenen sehr innovativen Firma NSU zur Audi NSU Auto Union AG zusammengelegt worden war. NSU hatte sich zuvor mit der Entwicklung des bahnbrechenden Ro 80 verhoben. Dieses Auto war seiner Zeit so weit voraus, dass es auch heute noch zeitgemäß erscheint, das Unternehmen bekam jedoch Kosten und Probleme nicht in den Griff.

Nur dank der Produkte dieser Töchter gelang Volkswagen 1970 der Befreiungsschlag. Das erste “moderne” VW-Auto war der K70, der alles hatte, was den bisherigen Volkswagen fehlte: Einen wassergekühlten Reihenmotor vorne, Frontantrieb, viel Platz und Stauraum und eine wirksame Heizung. 1973 kam der Passat, der nur eine Schrägheckvariante des von Auto Union entwickelten Audi 80 darstellte und damit keine wirkliche Neuentwicklung war. 1974 schließlich ging die erste Version des Golf in die Serienfertigung, eine VW-Neuentwicklung, für dessen Form und Konzept der italienische Industriedesign-Star Giorgio Giugiaro verantwortlich zeichnete. Die Technik des VW Golf stammte zu einem erheblichen Teil von den Audi-Entwicklungen. Mit dem Erfolg der Modelle Passat und Golf war der Konzern gerettet.
Besagtes Gerücht, das in den Medien und dem Internet köchelt, behauptet nun, dass der VW Golf gar nicht so entstanden sei, wie man gemeinhin denkt und wie oben beschrieben. In der Internetversion des Gerüchts fehlt meist auch nicht ein Verweis auf eine ominöse, aber vage zitierte Aussage des früheren VW-Managers Carl Hahn, der allerdings von 1972 bis 1982 gar nicht bei Volkswagen arbeitete.
Laut diesem Gerücht war es so, dass die Entstehung des VW Golf in Westdeutschland mit der Entwicklung des P603 in der DDR in Verbindung stehe. Die Baupläne seien heimlich von den DDR-Stellen an den VW-Konzern verkauft worden. Um dies zu verschleiern, musste das erfolgversprechende und zukunftsweisende Projekt in der DDR eingestellt werden.
In Summe habe also nicht nur ein erfolgreiches Autokonzept, sondern auch das Überleben eines der größten westdeutschen Industrieunternehmen seinen Ursprung in der Arbeit engagierter DDR-Ingenieure, was diesen aber schlecht gelohnt wurde.
Nun ja, widerlegen kann ich diese Theorie natürlich nicht. Aber ich kann schon zeigen, dass sie nicht plausibel ist. Ich stelle dazu erst einmal folgende Fragen in den Raum.
- Passt die ganze Geschichte überhaupt zu den politischen Rahmenbedingungen? In den 1960ern war das Klima zwischen beiden deutschen Staaten eisig. Da soll die DDR-Regierung wirklich 1967 heimlich seine Kronjuwelen an ein westdeutsches Industrieunternehmen, noch dazu eins mit starker Staatsbeteiligung, verhökert haben?
- Ist denn der Hergang der beschriebenen Verschwörung plausibel? Warum hätte man denn das Projekt P603 einstellen sollen, selbst wenn die Regierung angeblich die “Pläne” an den Westen vertickt hatte?
- Passt der zeitliche Ablauf? Dass es in der DDR richtig gute Wissenschaftler und Ingenieure gab, die trotz der wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen Erstaunliches auf die Füße stellten, sollte man wirklich mal anerkennen. Schlaumeier, die meinen, nur im Westen gab es technisch kompetente Leute, gehen mir auf die Nerven und haben keine Ahnung, wovon sie reden. Aber ist es wirklich plausibel, dass das Konzept des P603 nun so herausragend und zukunftsweisend war, dass man es in den Westen verkauft, und sieben Jahre (in der Automobiltechnik schon eine halbe Ewigkeit) später, schafft VW es endlich, ein Produkt daraus zu machen – und dieses Produkt, angeblich basierend auf einem schon sieben Jahre zuvor entstandenen Prototyp, ist dann immer noch so gut, dass daraus ein Welterfolg wird?
- Und das Wichtigste: Kann der P603 wirklich die technische Basis für den Golf dargestellt haben? Wieviel P603 hätte denn maximal im Golf stecken können? Der P603 hatte ein Stahlgerippe mit Kunststoffbeplankung, der Golf eine selbsttragende Stahlkarosserie, also trennen die beiden Konzepte Welten. Was bleibt denn an Ähnlichkeit? Am Ende wohl nicht mehr als das Generalkonzept der kompakten Karosserieform mit Schrägheck. Die war allerdings keineswegs mehr neu, als der Golf auf den Markt kam. Renault hatte beispielsweise schon seit den frühen 60ern solche Modelle produziert und der Renault 5, ein dem Golf viel ähnlicheres Auto als der P603, kam 1972 auf den Markt. Auch andere französische Konkurrenten stellten früher als VW ähnliche PKWs her, beispielsweise Simca mit dem Modell 1100 oder Peugeot mit dem 104. Auch die Italiener waren mit dem Fiat 127 schneller. Die Zeit war 1974 offenbar reif für solche Autos. Sicher hat man sich beim Golf-Design an den Konkurrenten orientiert, so wie bei der Entwicklung jedes anderen Autos auch. Das war schon immer so, und das wird immer so sein. Wenn die Designer ihre Hausaufgaben gemacht hatten, dann hatten sie vielleicht auch Bilder des P603 gesehen. Aber brauchte man, um auf so etwas zu kommen, wirklich geheime Konstruktionszeichnungen? Was hätte man daraus denn konkret umsetzen können?
Schauen wir jetzt mal einige Autos aus der damaligen Zeit an, um zu prüfen, ob VW wirklich die Vorgabe aus der DDR gebraucht hätte, um darauf zu kommen, dass ein kompaktes Auto mit großer Heckklappe den Kundengeschmack treffen würde:



Auch der erste deutsche Kompaktwagen mit Vollheckkarosserie, der dreitürige Glas 1004 CL, kam vor dem Trabant P603 und damit lange vor dem VW Golf auf den Markt, und zwar 1966. Das Design stammt vom Italiener Pietro Frua.





Fassen wir also zusammen: Der Trabant war keineswegs der erste Kompaktwagen mit Vollheckkarosserie. Also besteht auch kein Grund zur Annahme, dass VW sich das Golf-Konzept in der DDR abgeguckt hätte. Es gab, als der Golf I herauskam, bereits massenhaft Konkurrenzprodukte, die das Konzept vormachten. Zudem steckt im Golf offenbar keine Trabant-Technik. Die Konstruktionsweise war fundamental anders.
Um es auf den Punkt zu bringen: Was hatte der Trabant P603 denn den viel moderneren Kleinwagen vornehmlich aus Frankreich und Italien voraus? Eigentlich nichts. Andersherum: Was hatten die viel moderneren Kleinwagen der damaligen Zeit dem Trabant P603 voraus? Eigentlich alles, was auch heute noch ein Kompaktauto ausmacht. Fazit:
Der VW Golf I war kein “Kind des Ostens”.
Ich halte es eher für wahrscheinlich, dass das Projekt P603 eingestellt wurde, weil schon damals die Kapitaldecke in der DDR-Wirtschaft dünner wurde und zudem, mangels Konkurrenz, seitens der DDR-Führung auch kein wirklicher Bedarf an einem moderneren Nachfolger zum Trabi gesehen wurde.
Ich lasse mich aber gern eines besseren belehren, wenn es jemandem gelingt, meine hier ausführlich begründeten Zweifel zu zerstreuen.
Ein Beitrag von Michael Khan
Veröffentlicht auf Spektrum online

In Punkto Karosserieentwurf und Fertigung sind das fundamental unterschiedliche Ansätze. Ein Auto mit selbsttragender Ganzmetallkarosserie und eines mit Gitterrohrrahmen sind für den Ingenieur vollkommen unterscheidliche Dinge.
Die beiden Autos mögen dann vielleicht, wenn man sie aus der Ferne betrachtet, ähnlich aussehen. Aber was sagt “ähnlich aussehen” schon aus? Für ein technisches Produkt kommt es auf die technischen Eigenschaften an, und die sind fundamental unterschiedlich.
Wenn unterstellt wird, dass die Baupläne aus der DDR in den Westen wanderten und dort in die Entwicklung des VW Golf wanderten, dann sollte man zumindest erwarten, dass sich aus der ursprünglichen Konstruktion wesentliche Teile im Golf wiederfinden. Wenn schon grundlegende Entwurfsparaneter fundamental anders ist, was bleibt dann noch an Ähnlichkeit?
Dass beide eine schräge Heckklappe hatten? Geschenkt, aber das hatte der Golf auch mit diversen französischen und italienischen Konkurenzmodelen gemeinsam.
Wenn Sie wesentliche Ähnlichkeiten im technischen Aufbau (und der ist erst einmal wichtig, wenn es um die Entwicklung eines Autos geht, nicht oberflächliche Ähnlichkeiten im Aussehen) feststellen können, bitte ich um Mitteilung.
Ich sehe kein Indiz dafür, dass sich im Golf das technische Konzept des P603 wiederfindet.
Wenn technische Laien Mythen und Legenden verbreiten wird es gefährlich. Ich sage nur Segen und Fluch im Internet.
Für selbstragende Stahlkarosserien benötigt man Tiefziehbleche. Diese waren in der DDR nicht herzustellen und standen außerdem auf der Embargoliste. Sie hätten nur auf Umwegen und mit hohem finanziellen Aufwand beschafft werden können. Als der P603 konstruiert wurde galten noch die Hallstein-Doktrin, die jeden Kontakt auf wirtschaftlicher Basis verhinderten.
Es ist einfach grotesk zu behaupten, der Golf wäre in seiner Form dem P603 nachempfunden bzw. die Konstruktionspläne in den Westen verkauft worden. Wie der Betreiber dieser Internetseite bereits ausführte, gab es im Westen einige Karosserieformen, die diese Attribute beinhalteten.
Derartige Behauptungen sind nichts anderes als geistlose Erfindungen. Der Trabant hatte zeitlebens eine Grundstruktur aus Metall und eine Beplankung aus Kunststoff. Diese Karosserieteile wurden aus mehreren Lagen Baumwolle und Phenolharz unter hohen Temperaturen gepresst. Nach dem gleichen Fertigungsprinzip wäre auch der P603 gebaut worden.
Alles andere sind hübsche Märchen die nicht aus der Welt zu schaffen sind.
Die erste Generation des VW Passat kam Anfang 1973, also noch ein Jahr vor dem VW Golf 1 auf den Markt. Der Passat war zwar eine Nummer größer als der Golf, nahm aber viele Eigenschaften des Golf vorweg, beispielsweise Schrägheck und Heckklappe. Er stammt aus der Feder desselben Designers, nämlich Giorgetto Giugiaro, der auch die Form des Golf entwarf. Natürlich war die Entwicklung des Golf bereits weit vorangeschritten, als der Passat auf den Markt kam. Der Passat selbst basiert technisch weitgehend auf dem Audi 80.
Wer wird jetzt allen Ernstes bestreiten wollen, dass Volkswagen imstande war, sich das Konzept des Passats anzuschauen und sich zu sagen: “He, eine Nummer kleiner und mit Quermotor müsste das auch ganz gut gehen. Die italienischen und französischen Kleinwagen machen’s vor.” Um die Konkurrenten zu sehen, brauchen sie nur aus dem Fenster zu schauen.
Will wirklich jemand behaupten, auf diese nahe liegende Überlegung wären Giugiaro und die Verantwortlichen bei VW nicht gekommen und sie hätten stattdessen auf ein sieben Jahre älteres Konzept aus der DDR zurückgreifen müssen?