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Die fabelhafte Welt der Einhörner

Die Anzahl riesiger Start-ups ist in der Pandemie gestiegen, der Unternehmergeist wirkt wie beflügelt. Heute tummeln sich mehr Einhörner in der Welt als je zuvor. Es ist eine Welt wie aus dem Märchenbuch.

Ein Kommentar von Stephan Finsterbusch

In Zeiten, in denen die Welt vor großen Veränderungen steht, in denen sie von Pandemien, Dürren und Fluten, von Beben, Wetter- und Klimakatastrophen heimgesucht wird, in denen Kinder als Heilsbringer ausgerufen, Herrschende und Regierende aber zu Versagern abgestempelt werden, haben Fabelwesen schon immer die Menschen bewegt. Sie ließen durch ihre Sagen und Legenden von alters her Feen und Elfen fliegen, Nymphen und Trolle geistern, die Sphinx, den Phoenix und das Einhorn auftreten – und das galoppiert dieser Tage wieder ganz besonders schnell durch viele Fantasien.

Mitten in einer der schwersten Krisen der jüngeren Zeit hat sich die Zahl der Unicorns nun fast verdoppelt. Was einst in Gestalt eines schneeweißen Pferdes mit einem langen dünnen Horn auf der Stirn und außerordentlichen Kräften dahergekommen war, tritt heute in der Form eines Technologie-Unternehmens auf. Das ist in der Regel jung, wachstumsstark und vielversprechend, es hat einen etwas mystisch klingenden Namen wie Theranos, Zynga oder Tuhu, ist in vieler Munde, aber noch nicht an der Börse. Vor allem aber wird ihm von seinen Schöpfern ein Marktwert von mehr als einer Milliarde Dollar zugemessen.

Heute gibt es rund 760 solcher Unternehmen auf der Welt – so viel wie noch nie. Vor der Corona-Krise bestand die Herde der Einhörner nach Angaben von CB Insights aus knapp 400 jungen Firmen. Damals hatten sie einen addierten Wert von insgesamt 1200 Milliarden Dollar; heute wird er mit 2400 Milliarden Dollar beziffert. In den ersten sechs Monaten dieses Jahres flossen nach Angaben von Crunchbase 288 Milliarden Dollar in Tech-Start-ups, fast so viel wie im gesamten vergangenen Jahr. So erblickten zwischen April und Juni 2021 mehr als 130 neue Unicorns das Licht der Welt.

Eine Herde von Einhörnern

Knapp drei Dutzend aller Einhörner sind schon mehr als zehn Milliarden Dollar wert. Sie hatten während der Corona-Krise neue Finanzierungsrunden gedreht, warben weitere Milliarden ein und trieben so ihren Firmenwert in die Höhe. Als vor zehn Jahren noch kaum jemand das Wort „Unicorn“ mit einem jungen Tech-Unternehmen in Verbindung gebracht hatte, hieß es, Deutschland sei Start-up-Entwicklungsland. Heute gibt es auch hierzulande 17 Einhörner. „Mittlerweile sind wir da ganz ordentlich aufgestellt“, sagt Achim Berg, Präsident des Digitalverbandes Bitkom.

Seinen Worten nach mangelt es in Deutschland weder an Know-how noch an guten Ideen und schon gar nicht an Kapital. „Obwohl bei den Rahmenbedingungen noch einiges verbessert werden könnte.“ Er spricht über hinderliche Besteuerungsregeln von Aktienoptionen für Mitarbeiter junger Firmen und von einer oft etwas überengagierten Bürokratie. Mit dem Münchner Analyse- und Softwarehaus Celonis übersprang gerade das erste deutsches Unicorn die Bewertungsmarke von zehn Milliarden Dollar. Das schwedische Fintech Klarna ist mit 45 Milliarden Dollar derzeit Europas wertvollstes Einhorn.

Während Europa auf dem Feld der neuen Technologien seine nationale Vielfalt und wirtschaftliche Kleinteiligkeit pflegt, kommt es auf rund 100 Unicorns. Im autokratischen China mit seinem staatsmonopolistischen Dirigismus sind mittlerweile mehr als 150 Einhörner aktiv. Die Vereinigten Staaten kommen auf 385. Allein in der Bay-Area von San Francisco tummeln sich derzeit rund 100 Unicorns. Kein Wunder, Amerika hat nicht nur das Silicon Valley, sondern auch den dynamischsten Tech-Sektor und die erfahrensten institutionellen Risiko-Investoren der Welt.

Aus der Rubrik „Wirtschaft“ der Online-Ausgabe der Frankfurter Allgemeinen Zeitung

Stephan Finsterbusch schreibt seit 2008 für die Wirtschaftsredaktion sowie über digitale Themen