Zum Inhalt springen

Wenn Deutschland gespalten ist, dann gilt bis heute: Der Ossi ist schuld

Sachsen, da willst du nicht hin“, sagt die Westdeutsche: Ostdeutschland wird im bundesrepublikanischen Diskurs seit der Wende als das Störende, Andere, Demokratieunfähige betrachtet

Ein Beitrag von Claudia Schwartz

„Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört“, konstatierte Willy Brandt angesichts des Mauerfalls 1989. Heute wird das kaum noch zitiert. Brandts Diktum ist ein Fall für die Geschichtsbücher, verdrängt von einseitigen Zuschreibungen. „So isser, der Ossi“, titelte etwa der „Spiegel“ 2019 im Hinblick auf dreissig Jahre Mauerfall, während andere überzeugt davon sind, dass die „Ossis alle Kommunisten und Faschisten“ seien.

Interessanter als die Entschuldigung des Springer-Vorstandsvorsitzenden Mathias Döpfner für Letzteres ist allerdings die scheinheilige Empörung der deutschen Medien: Sie tun so, als hätten sie mit solchem Abgesang auf die Demokratiefähigkeit im Osten den Ausrutscher eines prominenten Einzelnen aufgedeckt. Dabei umreissen die beiden Beispiele von links bis konservativ das gesellschaftspolitische Meinungsspektrum der letzten drei Jahrzehnte. Es gibt nicht nur ein allgemeines Desinteresse an den ostdeutschen Anliegen. Bezeichnender noch ist die Abschätzigkeit, mit der führende Medien oder deutsche Fernsehfilme die Öffentlichkeit munter mit Stereotypen vom zurückgebliebenen Ostdeutschen unterhalten.

Es bleibt dabei: Der Westen versteht den Osten bis heute nicht, aber er will ihn auch nicht verstehen. Zwischen Brandt und dem «Spiegel»-Titel liegen drei Jahrzehnte, in denen der «Beitritt» der Ostdeutschen von einem Land zum anderen zwar formell rasch vollzogen wurde, mentalitätsmässig eine deutsche Annäherung jenseits des Privaten aber nie geklappt hat.

Die Ostdeutschen sehen sich seit dem Mauerfall mit Fragen nach Identität, Herkunft und nationalem Selbstverständnis konfrontiert. Währenddessen berichten die Medien über ausgewählte «Problemzonen» in den östlichen Bundesländern und stilisieren diese immer gleich zum grossen Ganzen: Dann ist der Osten jeweils ein Synonym für Arbeitslosigkeit und steten Abstieg, im politischen und sozialen Habitus ein Hort der AfD, des Rassismus beziehungsweise Rechtsradikalismus – oder schlicht und ergreifend ein armes, durch Abwanderung verödetes, vergessenes Land.

Das mag in manchen Teilen auch stimmen, aber vermittelt wird das notorisch als flächendeckende Negativfolie, die auch gleich darauf hinweist, dass das «richtige» und gute Deutschland eben woanders gemacht wird. «Sachsen, da willst du nicht hin», sagte mir letzthin eine Hamburgerin, selbst wenn dort ein schöner Posten lockt, wie es ihn auch im Westen nur alle zehn Jahre einmal gibt.

«Der Osten: eine westdeutsche Erfindung»

Jetzt ist einem Ostdeutschen, o Wunder, der Kragen geplatzt: Dirk Oschmann beschreibt in seiner Streitschrift «Der Osten: eine westdeutsche Erfindung» (Ullstein-Verlag, Berlin 2023), wie Deutschland eigentlich immer noch aus zwei äusserlich zusammengefügten Teilen besteht. Wobei der westliche Part selbstgerecht, angewidert oder einfach nur dumm, aber immer despektierlich auf seine Mitmenschen im Osten schaut, die «aufholen und sich normalisieren» müssten.

Angesichts des Vorwurfs, «dass eine Art Ost-Identität», sprich: Demokratieunwilligkeit, für die wachsende Spaltung Deutschlands verantwortlich sein soll, sieht der Leipziger Literaturprofessor sich gezwungen, daran zu erinnern, dass es die ehemaligen DDR-Bürger waren, die durch friedliche Revolution die Diktatur zum Implodieren brachten.

So plausibel es ist, dass jene einschneidende Demokratieerfahrung von 1989 Ostdeutsche schneller zu Strassenprotesten bringt, um «etwas im Staat bewegen zu können», so lässt sich hier ein gutes Beispiel festmachen dafür, wie den Ostdeutschen ihr Verhalten bei jeder Gelegenheit negativ ausgelegt wird. In diesem Fall als «demokratiefeindliche Positionierung» von «Wut-Bürgern», wo es sich doch eigentlich um ein laut Grundgesetz verbrieftes Recht handelt.

Was Oschmann auch noch hätte erwähnen können: Es waren Intellektuelle wie die aus dem Osten stammende Schriftstellerin Monika Maron, die als Erste auf den durch Tabuisierung der Flüchtlingskrise, Gendersprache oder Pandemiemassnahmen verengten Meinungskorridor hinwiesen und dafür mit dem Stigma «rechts» bedacht wurden. Was heute breit diskutiert wird, erntete erst einmal Buhrufe, weil es eben von der falschen Seite kam.

Nichts als Vorwürfe

Der Hinweis auf die Demonstrationsfreudigkeit ist eine der seltenen Passagen, in denen Oschmann überhaupt eine Erklärung «des Ostens» liefert. Denn sein Buch dreht den Spiess um: Mit nichts als Vorwürfen hält der Ostdeutsche dem Westen den Spiegel vor. Seine Beschreibung deutsch-deutscher Zustände gleicht bald 32 Jahre nach der Wiedervereinigung einer Bankrotterklärung auf 200 Seiten.

Die Deutschen, so der Tenor, hätten es bis heute nicht geschafft, die Geschichte von BRD und DDR zwischen 1945 und 1990 als eine gesamtdeutsche Geschichte zu begreifen. Und solange die «innerdeutsch übersichtliche Geografie» die Vorstellung einer mentalen Spaltung des Landes in Osten und Westen, sprich: «Schwarz und Weiss», befördere, werde Deutschland «ein geteiltes Land bleiben».

Oschmanns Buch stürmt jedenfalls die Bestsellerlisten, und der in diesem Zusammenhang oft mitgelieferte Hinweis, dass es leider vor allem im Osten gekauft werde, darf als ein schöner Beleg gelten für die These, dass der Westen weiterhin Desinteresse demonstriert. Die einschlägigen Reaktionen auf Oschmanns explizite Polemik unterstreichen diesen Eindruck. Da wird eher selten auf Oschmanns Argumente eingegangen, lieber mokiert man sich darüber, wie hier die Dinge vorgebracht werden.

So gibt die «Süddeutsche Zeitung» zwar dem Autor in seinen wichtigsten Punkten (der weiterhin «eklatanten Ungleichheit» der Lebensverhältnisse oder der Verunglimpfung der Ostdeutschen als «beigetretener Andersdeutscher») recht. Sie stuft dann aber den «schamlosesten» und «selbstherrlichen» Einwurf auf reine «Diskursbewirtschaftung» herunter und stempelt den Ossi («Los Lochos in Lostdeutschland») zum Loser unter Losern.

Damit wird Oschmanns Pamphlet zur Probe aufs Exempel: Wehe, einer aus dem Osten prangert den Westen im gleichen Ton an, dann reagieren sie im dortigen Justemilieu von ungehalten bis beleidigt.

Darf man noch «Aufbau Ost» sagen?

Nun ist Oschmanns Bestandesaufnahme überhaupt nicht neu. Und so manches legt sich der Autor in seiner Verve hier auch ein bisschen zurecht: wenn er etwa behauptet, dass die Medien Angela Merkels Musikauswahl zum Zapfenstreich aus Anlass ihres Abschieds (Nina Hagens DDR-Hit «Du hast den Farbfilm vergessen») als Kuriosität behandelt hätten. Viel eher war es doch so, dass dieses Lied im positiven Sinn mit Merkels DDR-Herkunft verknüpft wurde. Auch insinuiert Oschmann, man habe mit dem Begriff des «Aufbaus Ost» bewusst ans «Dritte Reich» angeknüpft. Ernsthaft? In einer Zeit, als in Deutschland wegen der Wende so etwas wie Ausnahmezustand herrschte?

Grundsätzlich ist es schon so: Die Wahrnehmung des Ostens im deutsch-deutschen Diskurs als das Störende, das Hässliche nahm gleich zur Wiedervereinigung ihren Anfang nicht zuletzt dank prominenten Intellektuellen wie Arnulf Baring oder Wolf Jobst Siedler, die 1991 von einem durch das DDR-Regime «verzwergten» Menschenschlag oder einer «Kolonisierungsaufgabe» im Osten sprachen. Es ging dann so weiter mit, wir erinnern uns, einer vom späteren SPD-Bundesinnenminister Otto Schily hochgehaltenen Banane angesichts des ersten, der CDU zugeneigten ostdeutschen Wahlverhaltens nach dem Mauerfall sowie einer «Buschzulage» (für westdeutsche Beamte, die in den Osten gingen).

Und wem das alles zu lange her ist, der findet bei Armin Laschet die Aussage, die DDR habe «die Köpfe der Menschen zerstört», wo «ganze Landstriche» nicht gelernt hätten, «Respekt vor anderen Menschen zu haben». Man muss sich einmal umgekehrt vorstellen, jemand würde vom Rheinland so reden, weil es dort bekanntlich Leute gibt, die sich im Karneval nicht gut zu benehmen wissen.

Was man darüber hinaus aber sagen muss: Trotz zerrütteten Verhältnissen darf es kein Tabu sein, danach zu fragen, weshalb die AfD den Osten so erfolgreich beackert. Hier schiesst Oschmann, der das eine Zumutung findet, übers Ziel hinaus und erweist der Debatte einen Bärendienst.

Eine junge Generation wählt mittlerweile in Ostdeutschland auch nicht aus Protest die AfD, sondern weil sich die Ressentiments der Wendeverlierer weitervererben. Doch mit der Diskursbereitschaft der Ostdeutschen untereinander, daraus macht Oschmann kein Hehl, steht es auch nicht zum Besten. Gerne wüsste man in diesem Kontext auch, wie Oschmann den auffallenden Widerwillen im Osten gegen die Nato und den Zuspruch für Putin erklären würde, wenn nicht aus einer tiefsitzenden ideologischen Überzeugung heraus.

In ostdeutschen Kleingärten und Kantinen

Oschmanns Buch hat Gewicht, weil es in seiner Attacke auf den Westen nochmals auflistet, wie sich der Westen den Osten zur Negativfolie gemacht hat in Vermeidung jeder Selbstkritik; sein Rückgriff auf den postkolonialistischen Begriff des «Othering» von Edward Said scheint da nicht aus der Luft gegriffen.

Die jüngere Generation der Deutschen pflegt in solchen Fällen das Thema weit von sich zu weisen und sagt: «Wir sehen uns nicht als Ostdeutsche oder Westdeutsche.» Man möchte in diesem Zusammenhang die schnöde Reaktion der «TAZ» auf Oschmann empfehlen, wo man aus diesem «Wut-Buch» vor allem den Sound von «ostdeutschen Kleingärten» und «Kantinen ostdeutscher Betriebe» herauszuhören glaubt, «überraschende, frische Sichtweisen auf die DDR» vermissend.

So isser, der Ossi. Er mosert in Kleingärten und Kantinen herum und wartet, bis ihn vielleicht jemand fragt, woher er kommt. Denn während es in Deutsch-Wokistan als politisch unkorrekt gilt, einen Taxifahrer nach seiner Herkunft zu fragen, weil «die Frage suggeriere, dass die angesprochene Person eigentlich ‹nicht hierher gehöre›», wie Oschmann schreibt, hat man erstaunlicherweise weiterhin keine Probleme damit, die Ostdeutschen ständig auf ihre Herkunft zu reduzieren.

Ein Beitrag aus dem Feulleton der „Neuen Zürcher Zeitung“ (NZZ)

Claudia Schwartz ist seit 19994 in der Redaktion der NZZ tätig