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Das war einmal

Autoritätsgläubig und lamm-fromm? Das war einmal. Die Stimmung in Deutschland dreht

Die Menschen wollen endlich Resultate: Mehr Impfungen und die Rückkehr zur Normalität. Die Kanzlerin und ihre Partei liefern aber nicht. Sie erhalten dafür die verdiente Quittung.

Ein Kommentar von Eric Gujer,  Chefredakteur der «Neuen Zürcher Zeitung»

Deutschland nähert sich einem politischen Kipppunkt. Raffgier im Bundestag, schleppende Impfungen und Ermattung nach einem Jahr Ausnahmezustand – das alles vermischt sich zu einem gereizten Grundrauschen.

In einem Jahr mit einer Bundestagswahl und sechs Landtagswahlen wäre alles andere als eine nervöse Stimmung sonderbar. In den letzten zwölf Monaten verhielt sich die Bevölkerung duldsam und autoritätsgläubig, aber jetzt unternimmt die Opposition alles, um die Wähler aufzurütteln. Zur Opposition zählt auch die SPD. Sie kritisiert am lautesten, was sie selbst mitentschieden hat.

Das hohe C, die natürliche Verbindung aus CDU und Covid, die souveräne Deutungshoheit der Kanzlerin über die Pandemie, existiert nicht mehr. War die Ausgrenzung der «Corona-Leugner» noch sehr bequem – eine klare Linie schied wahr von falsch, gut von böse –, so herrscht nun endlich wieder der politische Normalzustand: jeder gegen jeden. Die bis in jüngste Zeit den Niederungen des Parteienstreits entrückte Union ist hart auf dem Boden der Realität gelandet.

Die Corona-Schonfrist ist vorbei. CDU und CSU werden von allen anderen gejagt, denn sie sind auch nach zwei Wahlschlappen im Südwesten das Mass aller Dinge. Die Union stellt die Kanzlerin und liegt trotz Absturz in den Umfragen vor den anderen Parteien. Da die Kanzlerkandidatur von Armin Laschet das wahrscheinlichste Szenario ist, wird vor allem er ins Visier genommen.

Was der CDU nicht schadet: gierige Abgeordnete

Eine regelrechte Zeitbombe für die Kanzlerpartei ist hingegen die bisherige Bewältigung der Pandemie. Solange sich Deutschland auch bei Corona in der Rolle sah, die dem Land generell am besten gefällt – als Weltmeister und Musterschüler –, war alles in Ordnung. Man hatte vergleichsweise niedrige Fallzahlen und Mortalitätsraten und liess sich für die besonnene Art Angela Merkels vom Ausland gerne auf die Schulter klopfen.

Das ist vorbei, heute stellt sich die Lage ganz anders dar. Die deutsche Strategie beruhte auf zwei Annahmen, die sich als falsch erwiesen haben. Man hoffte, mit drastischen Massnahmen die zweite Welle zu brechen und damit die Fallzahlen dauerhaft reduzieren zu können. Inzwischen steht Deutschland nicht besser da als die Schweiz mit ihrem deutlich liberaleren Regime. Der Mittelwert der Ansteckungen, die sogenannte 7-Tage-Inzidenz, steigt wieder. Das deutsche Sonderopfer hat sich nicht ausgezahlt.

Zugleich verliess sich Berlin ganz auf die EU-Kommission und ihr Beschaffungswesen. Jetzt kommen die Impfungen nicht recht voran. Das liegt nicht nur am fehlenden Impfstoff, sondern ebenso an einer Bürokratie, die auch nach einem Jahr Pandemie so tut, als seien Dienstvorschriften wichtiger als Menschenleben.

Der Mangel an Entschlossenheit und Fokussierung auf die alles überragende Priorität der Seuchenbekämpfung fällt in vollem Umfang auf die CDU zurück. Obwohl Länder und Gemeinden gerade im Gesundheitswesen viele Kompetenzen besitzen, kommt es doch entscheidend auf die Kanzlerin und ihr Kabinett an.

Von der Frau an der Spitze erwartet das Volk Führung. Boris Johnson und Benjamin Netanyahu haben das begriffen und setzten nach dem verpatzten Auftakt ihrer Pandemiepolitik alle Hebel in Bewegung, um rasch Impferfolge zu erzielen. Damit brachten sie ihre Kritiker zum Verstummen. Johnson ist heute so beliebt wie nie. Die Briten verzeihen ihm sogar die Pannen zum Start des Brexits, denn sie haben Sinn fürs Wesentliche: Fortschritte im Kampf gegen das Virus.

Im Vergleich dazu schlägt sich Merkels sprichwörtliche Unaufgeregtheit in einer entspannten Praxis bei Tests und Impfungen nieder. So löst es nur Schulterzucken aus, wenn sie und Minister Spahn verschiedener Meinung sind und deswegen einiges liegenbleibt. Die Bundesregierung ist jetzt Weltmeisterin im Entspanntsein.

Die Fixierung auf Berlin ist unfair, schliesslich prägen die Ministerpräsidenten die Pandemiepolitik genauso. Ihre Verwaltungen setzen zudem die Beschlüsse um – oder eben nicht. So warten in Baden-Württemberg unzählige alte Menschen auf ihre Impfung, eine offensichtlich unfähige Verwaltung lässt sie allein. Informationen gibt es nicht, Anrufer werden in Hotlines abgespeist. Gemessen daran hätte Winfried Kretschmann nicht wiedergewählt werden dürfen, denn er hat als Krisenmanager versagt.

Ob fair oder unfair, kümmert indes niemand. Die Aufmerksamkeit richtet sich auf die Bundesregierung, nicht auf die Länderchefs. Daher haben die Landtagswahlen in diesem Ausnahmewahljahr auch nur untergeordnete Bedeutung für die Bundespolitik. Sie sind kein Stimmungstest, weil sie nicht die dominierende Frage abhandeln. Die Bundestagswahl wird ausschliesslich zum Plebiszit über die Leistungen der Bundesregierung im Umgang mit Covid-19.

Auszug aus dem Newsletter «Der andere Blick»

«Der andere Blick» erscheint immer freitags in der «Neuen Zürcher Zeitung».