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Geklonte Dummheit

Der infantile Menschenpark

Vortrag von Jürgen Wertheimer im Rahmen des Studium Generale der Fachhochschule Pforzheim

Zusammenfassung

Medien manipulieren. Aber die Medien ihrerseits sind ebenfalls leicht zu manipulieren, denn sie sind auf die von ihnen selbst kreierten einfachen Muster fixiert. Vor diesem Hintergrund kann nicht überraschen, wenn kritische, aufklärerische, abwägende Positionen einen schweren Stand haben. Eine Bestandsaufnahme aktueller Tendenzen in Medien und Künsten fördert selbst für die seriösen Sparten ein deprimierendes Bild zu Tage: Infantile Artefakte, Angebote für Fast-fun- fit-Fetischisten und simplifizierende Interpretationen komplexer Sachverhalte wohin man blickt. Schlimmer noch; auch an intellektueller Zündelei mit postmodernen Elite-, Zucht- und Stamm- fantasien fehlt es nicht. Kants Aufklärungsgebot, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, scheint hoffnungslos naiv zu sein. Es wird jedoch Zeit, sich vehement gegen Einschüchterungs- und Verdummungsstrategien von Elitegesellschaften kritisch und radikal zur Wehr zu setzen. Wir müssen lernen, den mediennutzenden und von Medien genutzten rattenfängerischen Dummmachern nicht auf den Leim zu gehen und uns in unserem eigenen, banalen, gemischten Da-Sein einzurichten: Jeder auf eigene Rechnung, mit allen Sinnen und Mut zur Ent-Täuschung.

1. Beobachtungen und Befunde

Spaßrebellen und „fun-generation“ nennen sie die Journale, und der Kunstmarkt sieht sich neuerdings als flippiger Fun-Dienstleister. Ein Spaß-Event jagt das andere und die Sprüche werden immer dümmer:

„Ich geh' jetzt in den Birkenwald, denn meine Pillen wirken bald.“

Nicht als Graffiti an einer Schulhofwand, sondern als Titel einer Installation des Künstlers Kippenberg in der noblen Kölner Kunsthalle findet sich die Inskription und ein blasiertes Publikum umschreitet den Wald aus kippeligen Birkenstämmen mit feinsinnig-ernsthafter Kennermiene.

Fürwahr: Der Menschenpark beginnt sich zu füllen. Wenn auch mit ganz anderen Bewohnern als von den „Vordenkern“ geplant: nicht anthropotechnologisch gezüchtete Eliten bevölkern ihn, sondern marktgemachte, marktgerechte infantile Kunden. Der Traum vom mündigen Staatsbürger wurde zugunsten der Farce des pflegeleichten, „wohlstandsverwahrlosten“ Konsumenten abgelegt. Und zwar innerhalb weniger Jahre. Man hat es möglicherweise noch nicht bemerkt, aber das Klonen von Humanoiden ist längst zur Realität geworden. Die diversen Ethik-Runden, die sich des Themas annehmen, werden nicht nur, wie üblich, zu spät kommen, sondern auch, wie üblich, am falschen Ort suchen.

Während man Angst davor hat, die Körper könnten einander immer ähnlicher, zum Verwechseln ähnlich werden, reproduziert man bereits längst erfolgreich austauschbare Serienhirne und Seriengefühle. Dazu bedarf es keiner biologischen Manipulationen der DNS – es genügt offenbar ein kommunikativer Eingriff, um Intelligenz zu neutralisieren und aus Individuen Klone werden zu lassen. Aus dem Jahr 1991 datiert ein internes Positionspapier eines großen deutschen Chemiekonzerns, in dem das Projekt einer gesellschaftlichen Zukunftsvision entwickelt wird, gegen das Orwells Ängste vergleichsweise harmlos erscheinen. Ich darf nur einen Satz daraus zitieren:

„Es wird sich in Zukunft darum handeln, die Mehrheit der Population an konsumverträglichen Denk- und Wahrnehmungskategorien zu orientieren.“

Schon 1933 hatte Reichspropagandaminister Goebbels von der deutschen Film- und Unterhaltungsindustrie gefordert, die nationalsozialistische Ideologie „genial und virtuos verpackt ‚einzuflößen’“. Mittlerweile ist die Verpackung zum Zweck geworden, Botschaften und Ideologien haben ausgedient, Begriffe geraten ins Schwimmen – und wir sind darüber nicht etwa verstört, sondern eher erleichtert, gelegentlich sogar stolz. Stolz darauf, keine Begriffe mehr zu haben, stolz darauf, die Orientierung verloren zu haben.

Doch es soll hier nicht die übliche kluge Rede über die verheerenden Wirkungen der trivialen, ich würde sagen, der normalen Medien gehalten werden. Und es soll auch nicht von TV-Verdummung, Talkshow-Exhibitionismus und Unterhaltungs-Leerlauf die Rede sein; nicht von Serien, Quiz, Politshow und interaktiver Dämlichkeit. Jeder, der im Besitz einer Fernbedienung ist, kennt vermutlich das Gefühl, das einen erfasst, wenn man an einem beliebigen Tag zu beliebiger Stunde zwanzig, dreißig Kanäle „durchzappt“ und so den Querschnitt der Normalkultur dieses vielbeschworenen dritten Milleniums erhält: Was die Rocky-Horror-Picture-Show in den Siebzigern als Kunstform kondensierte, ist zwischenzeitlich zur Normalität geworden; durchsetzt mit ein wenig Sentimentalität, Kitsch und Pornografie. Ich spreche auch nicht vom Feldbusch-, Guildo Horn- und Prinzessin Diana-Kult, obwohl auch dies treffliche Belege für die galoppierende – zumindest mediale – Infantilisierung unserer Hightech-Gesellschaft wären.

Ich beziehe mich vielmehr auf Produkte und Tendenzen der so genannten hohen, ernsthaften, jedenfalls ernst genommenen Kultur, von Meinungsmachern und Zeitgeistlieferanten, von Provokateuren und Zündlern, Poeten und Pathetikern, Religions(nachempfindungs)stiftern und Politikerimitatoren. Von all jenen, die diese schöne neue Welt in Szene setzen. Von den großspurigen „Verantwortungsnehmern“ und den kleinmütigen Machtmenschen – von uns selbst: manchmal als Manipulierte, manchmal als Manipulatoren.

Es ist nicht leicht, die Situation im Jahr 2000 zu beschreiben. Wer wie ich daran herummäkelt, läuft Gefahr, unter der Kategorie der Gestrigen abgehakt zu werden. Historisch seitenverkehrt kann er nicht wie anno 1968 gegen die Gestrigen des Establishments zu Felde und vom Leder ziehen, sondern steht vor der weitaus schwereren Aufgabe, gegen die alten Mogule und die jungen Macher, gegen den Typus Kirch und Murdoch einerseits, aber auch zugleich gegen den alerten und allgegenwärtigen Kulturredakteurstypus „FAZke, Mitte Dreißig“ zu polemisieren. Wer so argumentiert, muss gegen Geld und „Geist“ zugleich angehen und hat realistisch gesehen kaum eine Chance. Ganz abgesehen davon, dass der Rolle ein Hauch hysterisches Kassandra-Gewimmer und latenter Neidverdacht anhaftet. Und die Pose eines „Hier-stehe-ich-und-kann-nicht- anders“-Predigers ist vollends obsolet (und war es vermutlich seinerzeit schon).

Nein, es geht schlicht darum, entweder zu schweigen oder zu reden. Vermutlich wäre es klug, sogar weise, zu schweigen und die Phänomene erst gar nicht zur Kenntnis zu nehmen und ihnen so zur weiteren Wichtigkeit zu verhelfen. Wenn man dennoch spricht, ist man jedoch verpflichtet, dezidiert Stellung zu beziehen. Verstehen heißt eben nicht, „einverstanden“ zu sein, wie manche so genannte Gegenwartsphilosophen dies meinen.

2. Die neue Harmlosigkeit

Die Frage ist: Was geht vor? Was geht eigentlich vor, wenn ein amtierender Bundeskanzler zum Jahrhundertwechsel mit professionellem Augenaufschlag verkündet: „Wir können nicht dasitzen und abwarten, was der Staat, was die Politik tun können.“ Was geht in einer Gesellschaft vor, in der ein solcher Satz gesagt werden kann, ohne dass das Groteske und die Absurdität der Aussage auch nur ansatzweise begriffen wird. Ohne dass gesehen wird, dass hier auf billigstem rhetorischen Niveau versucht wird, sich solidarisch anzubiedern und ein Wir-Gefühl herzustellen, das die wahren Machtverhältnisse nicht nur ver- schleiert, sondern auf den Kopf stellt.

Vor wenigen Monaten erhielt ich ein Schreiben vom (inzwischen ehemaligen) Kultur“minister“ Naumann, in dem dieser gleichfalls mitteilte, eigentlich nur „ohnmächtig“ zu sein und letztlich nur zu reagieren. Wir haben es mit einem merkwürdigen Phänomen der kollektiven Selbstverkleinerung zu tun, das freilich in irritierendem Gegensatz zur demonstrativen, repräsentativen Selbstvergrößerung (Kanzleramtsneubau) steht. Der Repräsentant im Machtzentrum verkleinert sich dabei (zumindest rhetorisch) so, dass er zum sympathischen, wohlmeinenden Winzling wird, der Hand in Hand mit den wirklichen Winzlingen der Gesellschaft das Gute sucht. Kinder agieren so, wenn sie vor den Erwach- senen ein vorauszusehendes Scheitern präventiv legitimieren wollen. Freuds Studien infantiler Neurosen liefern einen reichen Erfahrungsschatz hierzu.

Die Psychologie kennt das Haschen nach Sympathien, die Trotzreaktionen und Mindergeltungsaffekte als Kennzeichen jener Infantilität, die auch als Massenerscheinung auftreten kann. Eine bestimmte Art, sich klein zu stellen und sich der Verantwortung zu entziehen. Im genannten Beispiel scheint es umgekehrt zu sein, denn man sucht ja augenscheinlich Verantwortung. Mit dem „Ich will hier rein“-Syndrom hat es begonnen. Jetzt sind wir alle im Politkindergarten, ziehen uns Bratenröcke oder Dreiteiler von Armani an und spielen wie die Großen „Politiker“.

Damit wir uns nicht missverstehen: Der so genannte amtierende Bundeskanzler, der die Richtlinien der politischen Ohnmacht bestimmt, ist hier nicht das Ziel der Attacken. Er ist nur Symptom. Symptom für eine Gesellschaftstendenz, die ihr Heil auf allen Ebenen in einer neuen Harmlosigkeit sucht. Selbst Bösartigkeit wird verharmlost. Die Reich-Ranicki-Knuddelpuppe, für DM 15,- zu erwerben, zeigt diese Verniedlichungstendenz und -sehnsucht auf anderer Ebene. Das greise Kind, stampfend, polternd, Bücher in Mischung zwischen Rumpelstilzchen und Pumuckel zerreißend, verfängt. Und während hunderte brillanter jüdischer Kritiker aus Deutschland und von Deutschen vertrieben wurden, wird ausgerechnet deren Unbedarftester zum Großmeister der Meinungsmonopolisten, zum Virtuosen des Fehlurteils hochkatapultiert.

Ich gebe zu, ich komme mir manchmal wie aus der Zeit gefallen vor. Man berauscht sich an der meditativen Stimmung in den Räumen des Holocaust-Museums, der Kanzler freut sich auf ein dazugehöriges Denkmal, zu dem man „gerne geht“ und hunderte christlicher Fördervereine restaurieren Synagogen ohne Juden mit nichterlahmendem Wiedergutmachungseifer. Ein Papst bekennt sich zu der Erleuchtung, dass Scheiterhaufen tatsächlich brennen. Ein Theologe erfindet zum Staunen der Welt die zehn Gebote neu, Philosophen träumen von Engeln und erklären die Welt als Märchen und Posse, und die Dichter spielen mit dem Faszinosum ihrer Nicht-Existenz.

Doch bei Nennung von Begriffen wie „Wirklichkeit“, „Authentizität“, „Utopie“, „Subjekt“, „Kritische Schule“ brechen postmoderne Gesprächsrunden in gedämpfte Heiterkeit aus, und wenn man die Unvorsichtigkeit begeht, etwa von „Menschenwürde“ zu sprechen, darf man sich getrost bei der staatlichen Fossiliensammelstelle melden. Ich würde nicht so viel Aufhebens um diese Anzeichen und spürbaren Tendenzen machen, die da häufig in harmloser, kindlich unbefangen scheinender Art daherkommen, wenn sie sich nicht so deutlich und systembildend manifestierten. Und wenn nicht jedes kritische Aufmucken zunehmend gnadenlos, militant und fundamentalistisch niedergemacht würde. Wenn nicht bereits jetzt auf eine gewisse und noch ganz unverfänglich scheinende Art nicht nur sektiert, sondern selektioniert würde, wenn nicht nur pure, sondern purifizierende Spielereien zu beobachten wären.

3. Die Schere öffnet sich

Wenn es noch eines Beweises für diese Tendenzen bedurft haben sollte, so hat die aufgeheizte, ja hysterische Diskussion um die Thesen Sloterdijks im Herbst 1999 ihn erbracht. Man beginnt wieder in Kategorien dominanter und dominierter, genetisch höher- und genetisch minderwertigerer Populationen nach-zudenken. Das Bild von Hütern und Herden existiert wieder. Hier die Elite. Dort die Masse. Die Masse, die am besten auf der Ebene einer unterhaltenden, eventreichen Satt-, Sauber- und Dumm-Lebenspflege ruhig zu stellen ist. Solches Zwei-Arten-Denken ist mehr oder weniger direkt angesprochen, bereits common sense. So zum Beispiel in der so genannten Bildungspolitik, wo neuerdings sehr direkt unterschieden wird zwischen den wenigen, den ganz wenigen Exzellenten, die zum Beispiel in Graduiertenkollegs methodologisch geklont und gehätschelt werden, und der Masse, die mit Kanon, Normen und Standards im Schnelldurchlauf abgefertigt werden soll. In den derzeit üblichen marktwirtschaftlichen Termini: das mittlere Segment bricht weg.

Auch im Fall und beim Fall der Universitäten stehen seit wenigen Jahren immer wieder ökonomisch-strategische Überlegungen am Anfang solcher „Reformen“, bei denen die praktizierte Torheit zum einen, böswillige Verdummungsabsicht zum anderen Pate stehen. Resultate zeigen sich bereits nach kurzer Zeit: Externen Bürokraten gelingt es im Zusammenspiel mit institutionsinternen Funktionären, ein Szenarium der Selbstauflösung herzustellen. Traditionsuniversitäten liquidieren, nur um sich in den Trend zu stellen, skrupel- und kopflos wertvolle kleine Fächer, in denen sie Weltrang hatten, Deutschland diskreditiert das Humboldt’sche Modell als antiquiert (während die amerikanischen Prestigeuniversitäten mühsam etwas Humboldt-Vergleichbares aufbauen), funktionierende Abteilungen werden geschlossen, während dümpelnde Schmalstspurprivatuniversitäten hektisch und trotzig buchstäblich in den Sand gesetzt werden. Zugleich delektiert man sich genüsslich an Schwanitzens Bildungsschmöker, bei dem in Wirklichkeit keiner weiß, was er damit um alles in der Welt anfangen soll.

Kaum einer weiß, wohin die Reise geht, aber man ist begierig, dabei zu sein. Mitzutun bei einem „epochalen“, „globalen“ Neugestaltungsprozess vor dem Hintergrund einer diffusen Elite-Wahnvorstellung, deren geistige Wurzeln unter anderem auch in der erwähnten genetischen Debatte zu suchen sind. Herrschte in den siebziger, achtziger Jahren der (häufig naive) Glaube, das Humanum sei vor allem als soziales, auch sozialisierbares Wesen zu verstehen, so dominiert derzeit ein biologisch orientiertes Denken, innerhalb dessen der Mensch als weitgehend durch genetische Disposition und Determination gelenktes Wesen erscheint. Es ist, als ob damit auch alle Hoffnung auf und Interesse an konkreten sozialen Verbesserungen und politischen Entwicklungen obsolet geworden seien. Etwas Trieb- und Zufallsgelenktes, etwas kaum mehr individuell oder als Subjekt Bestimmbares geistert durch die Vorstellungen. Molekularbiologe und Genforscher Lee Silver malt bereits das Szenarium einer möglichen Welt-Spaltung zwischen den „Habenden“ und den „Nicht-Habenden“ aus, zu denen die sozialen und technologischen Ungleichgewichte nur Vorspiele (und zugleich deren Motoren) sind.

„Wenn dereinst die genetische Verbesserungsmanipulation Kinder jenseits aller Menschlichkeit hervorbringt, wird sich der soziale Vorteil, den die reichen Gesellschaften derzeit gegenüber den armen Völkern genießen, in ein genetisches Plus wandeln. Mit jeder weiteren Generation würde die bereits bestehende Kluft zwischen armen und reichen Nationen weiter vertieft, bis schließlich alle gemeinsamen Wurzeln verschwunden sind. Eine auf diese Weise gespaltene Menschheit könnte durchaus das ultimative Erbe eines ungebremsten Kapitalismus amerikanischer Strickart sein.“

(Der Spiegel, 01/2000, S. 147)

4. Sinnrestituierende Rettungsideen

Gleichzeitig mit den imaginierten Gefahren wächst das Bedürfnis nach sinnrestituierenden Rettungsideen. Spiritualismus, Mythensüchtigkeit, die (utopische) Vorstellung einer Welt oder die Flucht in ästhetische Formen und symbolische Ordnungen (die neue „Erhabenheit“) sind als Gesten dieser Art zu sehen. Ob sie geeignet sind, den Sprung über die klaffenden Schenkel der Schere zu ermöglichen, darf bezweifelt werden. Sinnvoller als die Flucht in artifizielle sinnverdichtende oder insinuierende Schaumblasen und Sphären oder auch in die künstlichen Paradiese gentechnischer Veredelungs-Hysterien (biogenetische Gottspielerei) scheint mir demgegenüber eine Wahrnehmungsschulung, die sich den Wirklichkeiten in ihrer Ambivalenz, inneren Widersprüchlichkeiten stellt und nicht Reinheit sucht (und fürchtet), wo Vermischung gegeben ist. Aber das Akzeptieren von unauflöslichen Widersprüchen und schillernden Ambivalenzen ist wohl eine Wahrnehmungsform und Lebensmöglichkeit von Erwachsenen, die so gar nicht in das medial geforderte Vorstellungsmuster Pubertierenderzwischen dreißig und sechzig zu passen scheint. Pardon: „Wertkonservative Konsumenten“, so nennt man das jetzt. (@eliteboy.de)

Wie hat man sich das vermutete Leben dieser neuen, wertkonservativen Eliten vorzustellen? Wie werden sie aussehen? Wie sehen sie aus? Schlimmstenfalls wie Kracht, Nickel, von Schönburg, von Stuckrad-Barre? Wie werden sie sprechen, wie sich bewegen, wie denken? Vielleicht so wie ihre Rezensenten, die das Buch Tristesse Royale (Tristesse Royale: Hrsg. v. Joachim Bessing, Berlin 1999) mit Gesten des „fin de siècle“, allerdings des vergangenen, ahnungsvoll umweben. Und sich dabei wie früher Hofmannsthal äußern. Mit kraftloser Rech- ter und im dekadent-blasierten Stil übersättigter Erben stellt man seinen Geisteserguss bei Gelegenheit der Lektüre von Tristesse Royale ins Internet:

„Beim Hören von Carly Simons ‚You're so vain’ las ich in meinem Rezensionsexemplar dieses Ullstein-Buches herum (im Mikrowellenherd erwärmte ich die Makkaroni&Cheese von gestern, die Carl von Siemens, wutentbrannt aufbrechend, bei unserem Candle-Night-Dinner übrig gelassen hatte. Um es kurz zu machen: Sie verkohlten rettungslos! Nicht, dass dieses Buch irgendwie wichtig wäre, aber es lässt den Leser (mich) nicht mehr los. Es ist brilliantly written - full of spontaneous and utterly humour - und, einmal kann ich die Anglizismen auch mal stecken lassen: einfach gute, nein: beste Unterhaltung. Wäre ich ein Flugzeug, flöge ich mit ‚Tristesse royale’ und schisse auf das Kerosin! Sex! Kaufen! Bald! Al- le!“

(Leserrezension bei amazon.de)

Die Rede ist, um dies nachzutragen, von einem zum kleinen Kultbuch avancierten Werk eines so genannten „popkulturellen Quintetts“ von fünf Jünglingen, die im Medienofen ordentlich aufgekocht wurden. Schaum stieg auf, und es blubberte sacht-elitär. In der Kurzbeschreibung des Verlags liest man (21. 12. 1999): „Tristesse Royale, das ist das Lebensgefühl einer Generation, die ungeheizt zur Untermiete wohnt, aber mit dem Taxi in den Club fährt. [Die Autoren] erstellen einen Katalog der alltäglichen Ästhetik und Lebensführung – vom richtigen Hemdenschnitt zum definitiven Reiseziel, von der optimalen Kreditkarte bis zur Wahl des richtigen Gesprächsthemas auf den falschen Partys. […] – fünf Engel zeigen, wie man dem ganzen Schlamassel unserer Zeit mit Stil und Anstand entkommen kann.“

Motiviert durch solche Vorverheißung und vor nichts zurückschreckend, konfrontiere ich mich gleichsam in der Rolle des Jugendethnologen mit dem Text selbst und lese merkwürdige Überlagerungen von Absagepose und Selbststilisierung:

„ALEXANDER V. SCHÖNBURG: Wir stellen also fest, dass wir uns in einem postideologischen Zeitalter befinden und es für uns deshalb auch gar keine Res publica gibt. [...] Bei Harald Schmidt sah ich gestern die jüngste Bundestagsabgeordnete Deutschlands. Sie ist fünfundzwanzig Jahre alt und kommt aus Potsdam. Durch die Sendung blieb es völlig unklar, was sie im Bundestag eigentlich macht, außer nach den Wegen in die Kantine zu suchen und sich dabei zu verlaufen, aber sie nimmt an der Res publica - sicher -
Alexander von Schönburgs Gesicht wird von einem schwärmerischen Ausdruck, einem katholischen Leuchten, verklärt. Das letzte Wort des Satzes haucht er, kaum noch verständlich in sein Weinglas. ALEXANDER V. SCHÖNBURG: - teil.
Christian Kracht zündet sich eine Zigarette, eine Marlboro Lights, an.
BENJAMIN V. STUCKRAD-BARRE: Die Überlegung ‚Hat Politik etwas mit meinem Leben zu tun?’ ist an sich eigentlich grotesk. Es muss da bei uns einen Prozess der Entfremdung gegeben haben, der möglicherweise auch ästhetisch begründet war, dass man sich abgestoßen fühlte von Ortsverbänden und ähnlichem -
JOACHIM BESSING: [...] Man will sich an diesen Dingen nicht schuldig machen. [...]
Eckhart Nickel schließt die Augen und saugt gierig an seiner Zigarette, einer Marlboro Medium. Er inhaliert tief und bläst zwei ineinandergleitende Kringel.“

Eine x-beliebige Stelle aus dem spätjuvenilen Kompendium der Beliebigkeit. Lähmung macht sich breit. Gequälte Bonmots verhauchen, übersättigte Label-Listen werden ennuyiert durchblättert und während man sich indolent und mit was-auch-immer kokettierend, champagner- und schümlischlürfend von der gewöhnlichen Welt längst formvollendet verabschiedet hat, beginnt’s im Internet zu rappeln. „Champagner auf die Scheitel … saufen und kaufen“ heißt die Devise und flugs mutiert das elitäre Geblödle von fünf, was das Lebensalter betrifft, erwachsenen jungen Männern zum gesellschaftsrelevanten Event.

Lord Brummell und Dorian Gray, Wilde und Baudelaire, die Dandys des 19. Jahrhunderts – sie alle waren Originalgenies und Anarchisten, Provokateure und wahrhaft a-soziale Glanzlichter im Vergleich zu diesen jämmerlichen Spätbuben und ihrer Entourage. Und doch werden diese infantilen geistigen Bankrotterklärungen von der Gesellschaft wahrgenommen und goutiert wie Offenbarungsprosa. Was nicht nur einen Befund über die „Autoren“, sondern auch eine Aussage über ihre Leser impliziert. Nun soll das kleine fünfstimmige Prosastück nicht überstrapaziert werden. Man mag das Ganze auch als vereinzeltes Verlagsexperiment abtun. Wichtiger ist die Tatsache, dass – wie auf Kommando – die Medien nervös werden und die fünf Jünglinge flugs im Mittelpunkt eines zausenden und kosenden Interesses standen, um immer wieder die Lust am Leben ohne Haltung und Linie, aber mit Stil, Style zu betonen, unisono, austauschbar, wertfrei, glatt. Aalglatt. Nicht zu fassen. Und so soll es ja wohl auch sein oder, wichtiger, wirken.

Der Herbst des vergangenen Jahrtausendjahrs bescherte dann noch eine andere literarisch-theatralische Erfahrung, als der sich gewöhnlich selbst stigmatisierende Schreiber Rainald Goetz mit seinem Stück über Jeff Koon (Rainald Goetz: Jeff Koons, Frankfurt a. Main 1998) reüssierte. In einer geschickten Mischung von „Kitsch, Pornografie und Infantilismus“ scheint er einmal mehr das Feeling dieser Jahre zu treffen. Zeitgeisthechler Goetz hat sein Stück über die Pop-Ikone wahrhaft im richtigen Moment auf die Bühne gebracht. Die deutsche Moritat vom Aufstieg und Fall des Künstlers bedient alle derzeitigen Erwartungen, mit dem Ringelreim vom Poppen, Shoppen und Ficken ist ein hymnisch gefeierter Kritik- und Publikumserfolg gesichert und seitenlang kann man sich an so originellen Sequenzen ergehen wie:

„Mein Gott ist das geil sie machen was Tolles was ganz etwas Neues sie machen es jetzt
sie machen es wieder
sie ficken sie poppen sie tun es sie lachen
[...]
sie tun es
sie atmen
sie halten sich fest
sie nennen es Liebe
sie singen vom Glück“

(Rainald Goetz: Jeff Koons. S. 41)

Ich breche hier aus purer Höflichkeit das Zitat ab, wer sich für den Kontext im Ganzen interessiert, sei auf die Seiten 38 bis 47 der Suhrkamp-Originalausgabe des Werkes, das für nur DM 34,- zu haben ist, verwiesen.

Sie shoppen also und sie poppen, sie ficken, sie rauchen, sie saufen, sie bestellen, sie kaufen, sie dämmern, sie schlafen zusammen, sie sind glücklich, sie quatschen mit dem lieben Gott. Der liebe Gott nämlich kommt auch vor, beim lieben Goetz, und er sagt:

„he, Leute, Folgendes
ich bin der Erfinder von dem allen hier
echt?
ja
er hätte also
beispielsweise früher mal
ein Ehepaar erfunden
schon länger her natürlich
ob sie das nicht gewusst hätten?
auch die Stütze wäre von ihm
sogar Mercedes, Benz auch
er habe die ganzen Abgeordneten gemacht die Börse und das Geld und so
ja echt
[...]
er hätte auch das Bier sogar erfunden die Zigaretten und die Farbe grün auch die dazugehörige Partei
die Wahlen und so
alles das, das Ganze hier
in seinem Kopf erfunden und erdacht meint er jetzt noch mal
was sie denn dazu meinen würden was er für Lasten trage
da, im Inneren
in ihm
hm hm“ 

(Ebd., S. 64.)

Es folgen noch circa einhundert Seiten in diesem begnadeten Sprachfluss, ziemlich in der Mitte des Stücks dann aber die ideologische Sentenz, das „Konzept“, wie das (merkwürdigerweise von Mercedes Benz gesponserte) Werk solche Passagen nennt. Ein glühendes, stammelndes Bekenntnis zum – spätromantischen – Uralttopas des Künstlers als eines Kindes, eines lebenslänglichen, professionellen Organisators seiner eigenen, virtuos in Szene gesetzten Tollpatschigkeit, seines „Kindkomplexes“:

5. Der Kindkomplex

In der Vernissage-“Eröffnungsrede“ wird die Kindkomplex-Philosophie weiter mit peinigender, pathetischer Ernsthaftigkeit entfaltet. Als narrensicheres Rezept dieser Tage kann die Kopplung von Banalität der Aussage mit dem Gestus der Ernsthaftigkeit ihrer Hervorbringung gesehen werden. Goetz:

„Besänftigung, Begütigung und Trost: das Politikum dieser Kunst, Herr- schaften, ist Angst. Es ist der Schrecken des Kindes, der hier spricht. In der Enge dieser Angst ist alles groß, sehr groß, bedrohlich, fürchterlich und fratzenhaft verzerrt. Mit weit aufgerissenen Augen, panisch gejagt, sucht diese Angst nach Momenten des Nichtschlimmen, des Nichtkaput- ten, Nichtzerstörten. Da, schau. Ein Aufatmen, für einen Augenblick.“

(S. 120)

„... das Leben selbst, der Durst, der Griff nach einem Glas zu trinken. In diesem Sinn, liebe Freunde, begrüße ich alle, die gekommen sind, wün- sche einen wunderbaren Abend, und freue mich, schließlich mit Ihnen anzustoßen auf die Kunst, die wir hier sehen, auf die Vielfalt der von ihr erlebten Widersprüche, auf das von ihr auf diese Art ganz offensichtlich so Verborgene. Prost, meine Damen und Herren, zum Wohl, auf Sie.“

(S. 121)

Prost, meine Damen und Herren, zum Wohl auf Sie. Mit dieser schlichten Logik wird Theater gemacht. Wird Kultur gemacht, wird Politik gemacht, wobei eine deutliche Tendenz zur (profitablen) Selbstentmündigung geradezu virtuos propagiert wird.

Was die Tendenz selbst anbelangt und deren Ursachen, so scheinen sich viele der Betroffenen wie der Experten einig. Doch der Verweis auf die unerträgliche Abhängigkeit von den Restriktionen des Marktes und der Politik, ökonomischer Zwänge und politischen Drucks ist oft eher ein Ablenkungsmanöver von den eigenen Defiziten denn eine wirklich überzeugende Widerstandsform. So ist der immer wieder zu hörende Verweis auf den Terror des ökonomischen Denkens, der sich wie Mehltau über die Institutionen lege und deren Reichtum und Qualität schmälere, richtig und nicht ganz aufrichtig zugleich.

Richtig und tausendmal wahr ist, dass die jeweiligen geistigen Negativeliten einer Gesellschaft – u. a. Politiker so zu sehen ist sicher eher zutreffend als beleidigend – stärker und unverschämter als seit langem versuchen, mittels marktwirtschaftlicher Hebel in ihnen fremde Kulturinstitutionen einzugreifen. Richtig ist freilich auch, dass viele dieser Institutionen sich dem Diktat nicht nur ers- taunlich widerstandslos unterwarfen, sondern zum Teil am Verblödungsprogramm selbsttätig mitwirkten.

6. Gebt dem Theater, was des Fernsehens ist

Quotenforderung und Eventantwort sind Teile eines Denksystems, bei dem Ursache und Wirkung nur bedingt voneinander unterscheidbar sind. Im demokratisch-marktwirtschaftlichen „Menschenpark“ der Gegenwart gibt es eben nicht nur „Führer“ und „Direktoren“ von intellektuellem Format, sondern auch weniger qualifizierte, die insgeheim längst ihren Kampf, ihren Selektionskampf aufgenommen haben. Im Theater zum Beispiel heißt Selektion Auslastung. Das volle Parkett ersetzt jede inhaltliche Legitimation. So gesehen findet bereits heute ein rasanter Selektionsprozess statt, innerhalb dessen freilich nicht die Kompetentesten und Sensibelsten, sondern die Robustesten und Flexibelsten überleben.

Konkret heißt dies, dass viele Bühnen im Verlauf der letzten paar Jahre versuchten, die vermuteten Wünsche eines fernseh“verwöhnten“ Zuschauersegments antizipierend zu bedienen: Dies betrifft die Themen, Gattungen und Darstellungsformen. Kaum ein Stadttheater mehr, das es wagte, nicht etwas Musicalartiges, Comedyähnliches oder ein Lore-Roman-Remake mühsam auf die Bühne zu stemmen: nicht nur Fledermaus und Geier-Wally, sondern auch Ekel Alfred und Alf steigen auf Staats- und Stadttheaterrampen, und der böse Massenmörder Hamann reüssiert gar zum Dauertalkshowgast auf deutschen Bühnen. Und als dezent dramatisierte, schrille Talkshow versteht man neuerdings häufig das Metier. Denn wer Quote will, tut gut daran, so meint man wohl, sich an den Techniken der Quotenmachermaschine Fernsehen zu orientieren. Mit der Losung „Gebt auch dem Theater, was des Fernsehens ist“, werden TV- Techniken re-produziert, TV-Typen imitiert, persifliert, parodiert – keiner weiß es, aber man lacht doch immer wieder amüsiert, wenn man auf einer Staatstheaterbühne den Fetzen irgendeiner Serie wiederzuerkennen glaubt oder das Double einer Figur, die man schon auf der Mattscheibe zum Kotzen fand. Man lacht, aber weiß beim besten Willen nicht, weshalb. Man signalisiert Wiedererkennungsfähigkeit und beweist damit eine gewisse massenkommunikative Kompetenz, was offenbar als eine Art Intelligenzbeweis hinreicht.

Überhaupt ist es eine Blüte des halbdebilen Helden. Kaum ein Stück, das auf ihn oder sie – rotzend, schniefend, sabbernd, plärrend, kackend, wichsend – verzichten mag: am besten pubertär oder gereatrisch. Ich weiß, ich bewege mich auf ethisch gefährlichem Terrain, aber etwas befremdend ist es schon, wenn die eine Seite der Republik vom leidensimmunen Übermenschen träumt und die andere (paradoxerweise oft dieselbe Seite) bei anderer Gelegenheit wieder das Konzept eines „Untermenschen“ zelebriert. Im Berliner Staatstheater geschieht dies derzeit fast in Serie. Wie zum Beispiel im hochgelobten Stück einer hochgelobten Nachwuchshoffnung wie Moritz Rinke mit dem ominösen Titel Der Mann, der noch keiner Frau Blöße entdeckte (Uraufführung am 3. 1. 1999). Auf der Bühne eine Mischung aus tumbem Tor und brutalem Trottel, dessen egomanischer Lernprozess nun dreistündig ausagiert, vorgeführt wird. Dergleichen ist natürlich weder neu noch unzulässig. Tankred Dorsts Parsifal im Merlin hat gleichfalls solche und noch schlimmere Aspekte und Phasen.

Was bei so vielen Produktionen der Gegenwart verblüfft, ist nicht wie in den Siebzigern deren Brutalität und Grausamkeit oder ihr politischer Aktionismus, sondern vielmehr die unübersehbare Harmlosigkeit, Beliebigkeit und Selbstgenügsamkeit der Darbietung. Man reproduziert ein Tischfeuerwerk kleiner hektischer Katastrophen. Zerfalls- und Dekompositionserscheinungen von Individuen und Gruppen, Sprachen und sozialem Handeln werden nicht analysiert oder gar erklärt, sondern beliebig „präsentiert“; dramatische Situationen und Entwicklungen finden sich ebenso wenig wie wirkliche Affekte oder – horribile dictu! – wirkliche Menschen: nach dem hermetischen Dramaturgiemotto „Ein Theater ist ein Theater ist ein Theater“ reproduziert und arrangiert man Versatzstücke einmal adaptierter Formelemente immer wieder neu und verweist, wenn überhaupt, auf sich selbst. Die Operation „Theatertheater“ wird immer mehr zum selbstgenügsamen und aggressiven Spiel groß, aber nicht erwachsen gewordener Luxuskinder, die ohne feste und auch ohne provokante Absichten den Immergleichen das Immergleiche vorspielen, nachkauen, wiederkäuen.

Es ist aller Ehren wert und vermutlich auch ehrlich gemeint, wenn 1998 zehn prominente deutsche Bühnenchefs mit dem so genannten „Karlsruher Protokoll“ ein Manifest „Wider die Verblödung“ beschlossen. Im Angesicht eines Teils der selbst gemachten Beliebigkeiten könnte es allerdings zurückschlagen und zu einem Argument wider die eigene Institution werden. Freilich darf man sich vorerst noch weitgehend sicher fühlen. Man hat unter gütiger Mitwirkung der halbmanipulierten, halb manipulierenden Großkritik ein Anrecht und gute Gründe, wie angedeutet fortzufahren. Im Kindergarten der Feuilletonkultur-Lust delektiert man sich am eigenen Unwohlsein und gibt dies als ästhetisches Grundgefühl ans verehrte Publikum weiter. Und so applaudiert sich denn auch das Publikum seine möglicherweise vorhandenen Unlust- oder Langeweile-Gefühle weg und freut sich, wenn zum x-ten Mal eine Kettensäge an einer Puppe schnippelt oder wenn, wie in Johnsons Stück Lebensabend (1992), ein Pandämonium an alten Karikaturen vom Comic-Opa bis zur Märchenhexe herumzittert und alzheimert.

Nichts, absolut nichts wurde dabei klar zu machen versucht über die gebrochenen Gefühlslagen alter Menschen und ihrer Betreuer. Keine Rede auch von den diffizilen Macht- und Ohnmachtsverhältnissen in der Phase zwischen Restleben und Tod. Denn überhaupt werden all diese Fragestellungen obsolet durch die gezielt vergröberte, simplifizierte Darstellung der Figuren als inkontinente, verblödete, fettleibige, geile und fresssüchtige Monster. Sie sitzen nebeneinander an Rolltischchen, sabbern und ferkeln beim Essen, manipulieren an sich herum, erzählen sich alles zum soundsovielten Male selber. Wie Mondkälber werden sie dem Publikum denunziatorisch vorgeführt. Respekt scheint es nicht mehr zu geben. Noch Tabus.

Doch, Tabus gibt es, ein einziges, das streng respektiert wird: die Frage danach, was die dargestellten Dinge bedeuten oder bedeuten sollen. Symbolische Bedeutsamkeit ist gefragt: Noch nie wurden so viele Mythen, Mythenmärchen, Mythologeme und Mythologien verhackstückt, pardon, zelebriert wie gegenwärtig. Aber die Frage nach der schlichten Bedeutung, die gilt als unfein, deplatziert, naiv. Damit auch das Bedürfnis, nicht nur irgendwelche schrillen Bebilderungen in Kinderfarben zu sehen, sondern etwas von dem zu erfahren, was in und mit den Figuren vorgeht, die in diesen Bildern stehen.

Manchmal lässt sich der intellektuelle oder auch existenzielle Verödungssog dieser Jahre an Einzelpersonen festmachen, zum Beispiel an Botho Strauß, der in den siebziger Jahren durchaus gesellschaftskritische, bissige Dialoge zu schreiben wusste. Sieht man sich nun sein Stück Die Ähnlichen (1998) an, so findet man solche Selbstzitate aus der Zeit von vor zwanzig Jahren als tröstende Einsprengsel in einer sich sonst über weite Strecken in selbst gebastelten Trivialmythologemen und Pseudophilosophemen ergehenden Suada: längst wurden aus Bissigkeit und kluger Schärfe Gags, und statt gesellschaftliche Stagnation zu zeigen, produziert der Altmeister szenische Stagnation. Es reicht noch nicht mal mehr zum Bocksgesang.

Man kommt sich vor wie bei der Inszenierung von Des Kaisers neuen Kleidern. Jeder merkt, dass da einer nichts anhat, aber alle spielen (noch jedenfalls) mit: die Theatermacher, die Kritiker, das Publikum. So gesehen geben Stück und Aufführung zusammen Auskunft über die Befindlichkeit unserer Gesellschaft. Niederschmetternd.

Tröstend vielleicht die vielen Engel, die in letzter Zeit deutsche und nicht nur deutsche Bühnen befliegen, aber nicht beflügeln. Sie und andere mehr oder weniger hübsch ausstaffierte, mehr oder weniger echte Luft- und sonstige Elementargeister bevölkern die Szene in zunehmendem Maße, auch sie ohne besondere Motivation und Bedeutung, ob bei Strauß oder Turrini, Dorst oder Dünser. Um Missverständnissen vorzubeugen – nicht von Kindertheater ist die Rede, sondern von Inszenierungen im großen Stil. Von der neuen Kindlichkeit auf Zeit. Regression ist ab jetzt kein Privileg der Masse. Veronika Feldbusch ist allenfalls die Barbievariante wie Guildo Horn die Ballermann-Ausgabe dersel- ben Grundbefindlichkeit, die man auch in der Maximilianstraße oder der Schaubühne erleben kann. „Pterodaktylus“ für die einen, „Jurassic parc“ den anderen; von der Fettecke (Beuys) zur Nussecke titelt ein zeitgenössischer Kulturberichterstatter und umreißt damit einen faszinierenden Demokratisierungsprozess der Postmoderne, wo die so genannte Hochkultur sich zu den trivialen Medien so verhält wie die Kopie zur DNS.

Infantilität als letztes Band der Gleichheit, kollektive Dummheit als Garant einer übernationalen „égalité“. Für dieses kollektive Grundgefühl ist naturgemäß ein Preis zu zahlen. Der Preis eben jener Nivellierung, die dann Hohepriester der neuen Selektionstheorien auf eigenartige Gedanken bringt. Gedanken an Auslese, Zucht, Kontrolle, Dominanz. Wahr ist – vielleicht -, dass die Spezies Homo Sapiens sapiens die einzige ist, die an der eigenen Intelligenz selbst (mit-)gestaltend wirkt.

Wahr ist sicher, dass es sich um jene Spezies handelt, die bei der Selbstherstellung der eigenen Regressionen und Reduktionen wortmächtig mittut. Die lange abendländische Tradition des restriktiven Denkmodells und der strategischen Unterdrückung von Intelligenzen, die als nicht systemkonform betrachtet wurden, wurde von Philosophen wie Foucault eindrucksvoll dargestellt. Die Kritische Schule war nicht deren Gegenstimme, wie gelegentlich zu insuieren versucht wird, sondern das Korrelat dieser Bemühung, Kants Aufklärungsgebot Nr. 1, den Mut, sich seines eigenen Verstandes- und Emotions-Potenzials aktiv zu bedienen, konkret umzusetzen.

Es gab und gibt demgegenüber, denn an der Aktualität dieser Demarkationslinie haben die neuen Technologien nichts verändert, eine Tendenz der Separation, Entmutigung und Dominanz der Vielen durch eine kleine Zahl „Auserlesener“. Dies aber ist eine psychologische, politische, soziologische, keine genetische Frage, denn es ist dabei um Profite, Gewinne, Macht, Eitelkeit, nicht um Genome und Gene und Erbsubstanzen zu tun. Wir sind im Begriff, eine entscheidende Phase in der Auseinandersetzung mit diesen Strategien zu verpassen.

7. Das Zarathustra-Projekt

Der Mainstream der öffentlichen Diskussion bewegt sich derzeit auf biologistisch-gentechnologischer Ebene: homo biologicus, der „Mensch“ als fast ausschließlich hormonal und genomisch gesteuertes Wesen, fasziniert. Obwohl sich diese Tendenz international beobachten lässt, findet sie in Deutschland sowohl unter besonderen historischen Vorzeichen statt als auch auf besonders verantwortungslose Art und Weise.

Deutschland ist das einzige Land, das die Regie der Diskussion ausgerechnet in die salbungsvollen Hände eines der unseriösesten Vertreter einer zynischen Modephilosophie gelegt hat. Nicht genug damit. Man merkt noch nicht einmal, was, wie und wo es vor sich geht. Ausgerechnet auf Schloss Elmau, seit je an anthroposophischen Themen und Lebensformen auf exklusiver Basis interessiert, kam es zu jenem Eklat, um den sich seither ehrfurchtserstarrende Runden scharen, die von Ex-Guru Sloterdijk argumentativ paralysiert zu werden scheinen: Habermas auf verlorenem Posten, andere knicken ein und drehen hohl, wenn sie am Geistesschlafittchen in die Dunkelzelle der Verstandesdämmerung abgeführt werden.

Es ist schon ein bisschen wie in den Zwanzigern: Die „gute“ Gesellschaft, die Zirkel, die Communities schwadronieren. Die intellektuelle Crème diskutiert, unverbindlich, spielerisch, unverantwortlich, die Medien nehmen das Potenzial auf und kneten daraus einen verkaufsträchtigen „Titanenkampf“ der Weltanschauungsgiganten nach schlichtestem bipolaren Strickmuster: Der Hauptakteur selbst darf die Hieb- und Stichworte vorgeben, und er spricht vollmundig vom Kampf zwischen:

„den Kleinzüchtern und den Großzüchtern des Menschen, [...] den Hu- manisten und den Superhumanisten, Menschenfreunden und Übermen- schenfreunden“. (Peter Sloterdijk in: Regeln für den Menschenpark. Ein Antwortschreiben zum Brief über den Humanismus - die Elmauer Rede.

(Die Zeit, Nr. 38 vom 16. 09. 1999)

Ausgeleierter, verflachter Nietzsche, ein bisschen gefälschter Plato, eine Prise Heidegger, etwas provokanter Technologiejargon und schon schweben die Mediengeier beutehungrig ein und schlucken die Philosophieaasstücke:

„optionale Geburt [und] pränatale Selektion“, „züchterische Steuerung der Reproduktion“

(ebd.)

Die pseudophilosophischen Kotzbrocken werden gierig inhaliert und geschluckt. Hilfreich dabei ist sicher der verdauungsfreundliche schleimige Gleitstoff, mit dem Giftbrocken umhüllt sind: denn wann immer es brisant zu werden droht, flüchtet sich der zukünftige Selektions“direktor“ in eine offenbar beglückende Rhetorik der Allusion, der Unschärfe, des „Andeutens“, denn „mehr als Andeutendes ist auf diesem Felde weder möglich noch statthaft“; eine Rhetorik der Verstandesdämmerung, die, Thomas Assheuer hat darauf ebenso stilsicher wie wirkungslos verwiesen, auch und gerade bei jenen zu verfangen beginnt, die sich unglücklicherweise auch noch in (Ohn)Machtspositionen befinden. So bekennt sich Grünen-Politikerin Antje Vollmer zu ihrer unglücklichen Liebe zu Sloterdijks Stil (sie findet ihn „schön dunkel und raunend“). Auch das „Böse an sich“ beschäftigt die erstaunliche Politlady, und sie unterlässt es auch nicht, verkitscht von den „sinnlichen Gärten“ des Nationalen zu schwärmen.

Um es noch einmal klarzustellen. Es geht mir nicht um ein Ins-Unrecht- oder Recht-Setzen der mehr als dubiosen, vor allem aber lächerlichen Thesen Sloterdijks. Was davon zu halten ist, sollten Kolleginnen und Kollegen aus den entsprechenden Fächern sich nicht zu gut sein, auch öffentlich zu sagen. Wie beispielsweise die Tübinger Biologin S. Graumann (in: Menschen sind keine Mäuse. Schwäbisches Tagblatt vom 03. 01. 2000), die klar darauf verweist, dass die konkrete Möglichkeit einer kontrollierten „gentechnischen Veränderung“ des Menschen in nennenswertem Umfang derzeit noch völlig unrealistisch ist. Die Wissenschaftlerin, die an einer jener ebenso renommierten wie offenbar irrelevanten Institutionen arbeitet, die sich seit Jahren hochkarätig besetzt mit Fragen der „Wissenschafts“-Ethik beschäftigen, bringt das Entscheidende auf den Punkt, wenn sie von den sozialen und psychologischen (das heißt nicht notwendig moralischen, keineswegs aber moralinsauren) Konsequenzen des gedankenlosen Umgangs mit Zucht, Züchtungs- und Selektionsmodellen spricht, dass so sich allmählich der Glaube an die Machbarkeit all dessen festsetze, eine Mischung von Ängsten und Erwartungen, die dazu geeignet sind, jene Realitäten herzustellen, die – von den Tatsachen abgekoppelt – auf besonders gefährliche Weise in das Leben einwirken können. Die Gefahr liegt in eben dieser Losgelöstheit von den Fakten einerseits und der Einbettung der Ideenpartikel in weltanschauliche Denkgebäude zum anderen. Genau an diesem Punkt aber stehen wir. Und die Symptome des Denkhaftungsverlusts zeigen sich exemplarisch anhand jener Debatte, auf die ich mich deshalb beziehe.

Wie sonst, wenn nicht unter Preisgabe kritischen Denkens, könnte es möglich sein, dass ein Scharlatan wie der erwähnte Philosoph nicht einfach Lachen, sondern Ernsthaftigkeit erregt. Nietzsche wollte immerhin großes Gelächter, sei es der Götter oder der Menschen. Ein anarchistisches, vitales, kraftvolles Lachen erwachsender, erwachender Menschen. Der schiefe Nietzscheaner aber will – Ernsthaftigkeit. Und er bekommt sie. Bekommt sie von den Leitmedien der Nation: tierische, kindliche, kindische Ernsthaftigkeit. Schon sehen die einen das Ende der Kultur des Humanismus, träumen die anderen von der eigenen Selbstvergrößerung, statt sich den konkreten, banalen, alltäglichen, ambivalenten unendlichen Wirklichkeiten und Problemen zu stellen.

Es ist vielleicht nicht uninteressant, dass derselbe Vortrag des versierten Zeitgeistzündlers, der auf Schloss Elmau gehalten wurde, Jahre zuvor einem nüchternen Basler Publikum ohne Eklat bereits präsentiert wurde. Nicht nur Ort und Zeit, vor allem die mediale Präsenz entscheidet also über die Wichtigkeit einer „message“. Es ist wahr und hinreichend bekannt: Medien manipulieren. Aber auch der Umkehrschluss ist nicht ganz unwichtig: es ist vergleichsweise einfach, auch die Medien ihrerseits zu manipulieren. Denn sie sind auf die von ihnen selbst kreierten einfachen Muster fixiert. These – Gegenthese und ein Hauch von Skandal genügen, um etwas in Bewegung zu bringen. Nur eine intellektuelle Tortenschlacht? Nicht der Aufregung wert? Ich denke doch, denn hier wird mit gefährlichen Denkmustern auf fahrlässige, kollektiv infantile Weise hantiert. Die leichte Erregbarkeit einer auf Sensation gedrillten Öffentlichkeit kann zum richtigen Zeitpunkt bedient und stimuliert und eine Denktradition wie die der Kritischen Schule handstreich- und putschartig ausgeschaltet werden. Schock und Narzissmus lähmen argumentativen Protest und selbst ein Habermas verkümmert im Sog dieser Überwältigungsstrategie zum belächelten Fossil.

Nicht in der abwegigen Züchtungsidee also liegt die alarmierende Bedeutung von Sloterdijks „Menschenpark-Rede“, sondern allein in ihren massenmedialen Auswirkungen. Wie der Subtext zum Menschenpark-Streit wirkte eine kürzlich lancierte Meldung, dass es Genforschern aus der Schweiz und den USA gelungen sei, „lebensfähige Tiere als Miniaturen zu kreieren“, was hinreichender Anlass für einen Welt-Leitartikel zur Beantwortung der bangen Frage war: „Erster Schritt zum Mini-Menschen?“

Solange die Gentechnikdebatte mit Publizität dieser Art rechnen muss, hat, dies ist die andere Seite der Argumentationsmedaille, die öffentlichkeitsscheue und gemiedene seriöse Kritik versagt. Nicht zuletzt deshalb hier der Versuch, auf eine Entwicklung hinzuweisen, die dazu führen könnte, letztendlich auch den Stichwortgeber dieser Runde, den Karlsruher Philosophen, zum Statisten und nützlichen Idioten zu degradieren. Auch die ideologischen Anfänge des Dritten Reichs wurden nicht in den Gehirnen der Führer gelegt, sondern in elitären intellektuellen Debatten der zwanziger Jahre. Die Politiker verstanden es freilich, die Kopfgeburten der Intellektuellen zu beerben und aus ihnen grauenhafte Wirklichkeit für Millionen zu machen.

Gestrig? Mitnichten! Nur wenige Jahre sind vergangen, seit die Politverbrecher Milosevic und Karadzic den argumentativen Fundus ihrer Akademien, Philosophen und Dichter plünderten, als diese mit „Reinheitskonzepten“ spielten, um damit ihre Machtpolitik zu legitimieren. Und was die deutsche Variante betrifft, so ist dergleichen intellektuelle Zündelei mit postmodernen Elite-, Zucht- und Stammfantasien ja nun durchaus nicht als „Ausrutscher“ zu betrachten, sondern als Teil eines seit Jahren betriebenen provokativen Spiels von kulturzerstörendem Zuschnitt, – die Namen Botho Strauß und Peter Handke brauchen hier kaum noch einmal wiederholt werden. SZ-Kritiker Edo Reents hat es in einer bezeichnenderweise kleinen Marginalie auf den Punkt gebracht, wenn er das „Projekt Zarathustra“ als (noch) infantiles Spiel beschreibt:

„Für Kinder ist es ein Vergnügen, eine mit Wasser gefüllte Glaskugel zu schütteln, auf dass die künstlichen Flocken drin nur so stieben. Der Schnee wirbelt herum und lässt sich langsam auf der Miniaturkulisse, die meistens aus einem Haus und ein paar Bäumen besteht, nieder. Dann ist Ruhe. Dann drohen Öde und Langeweile. Und dann muss von neuem geschüttelt werden, auf dass die künstlichen Flocken wieder fliegen. Dem Philosophen Peter Sloterdijk wird die Debatte um seine Elmauer Rede ‚Regeln für den Menschenpark’ vom Juli wie ein Kinderspiel vorgekommen sein - angezettelt von den Medien zu deren eigenem Nutzen und Vergnügen. Es ist ihm und seinen Verteidigern nicht zu widersprechen, wenn sie die Debatte, die hernach entstanden ist und im Faschismus-Vorwurf frühzeitig gipfelte, als künstlich bezeichneten. Und dass auch sie ihr Mütchen kühlten und die deutsche Entrüstungsindustrie an- und einen Bildungsnotstand in den Redaktionsstuben beklagten, ist vielleicht begreiflich.“

(Edo Reents in: Nichts lichtet sich. Peter Sloterdijk in Elmau, zweiter Versuch. Süddeutsche Zeitung Nr. 294 vom 20. 12. 1999)

Allein: Bildungsnotstand hin, Medienerfolg her – es geht hier um zu viel, als dass man es dem freien Spiel der meinungsmodellierenden Kräfte überlassen dürfte, Dinge dieser Art zu eigenem Vergnügen, Narzissmus und Nutzen „anzuzetteln“. Biopolitik-Phrasen dieser Art treffen ins Herz jener immer wieder in festtäglichen Reden beschworenen Menschenwürde, die doch angeblich noch immer einen integralen Bestandteil der so genannten „Wertegemeinschaft“ Europas darstellt.

8. Widerstand gegen die Diskreditierung kritischer Denkprozesse

Ich würde, wie gesagt, nicht solches Aufheben um die genannten und andere Phänomene machen, verdichteten sich nicht die Anzeichen einer nachhaltigen Destabilisierung und Diskreditierung kritischer Denkprozesse. Ich gehe das Risiko ein, mir nachsagen zu lassen, ein hoffnungslos naiver, wissenschaftsgeschichtlich inakzeptabler Fall zu sein: Doch es beginnt mir unerträglich zu werden, philosophische Prominenz, Menschen, die ihr Ego sorgsamst zelebrieren, von einer historischen Überwundenheit des Subjektbegriffs schwadronieren zu hören oder büchnerpreisgeschädigte Autorinnen wie die Primadonna assoluta Elfriede Jelinek zum x-ten Mal mit ihrer Ich-Losigkeit (“mich gibts nicht“-Nummer) auftreten zu sehen. Dass der Glaube an die Würde des Subjekts, die Autonomie des Ich und die Geschlossenheit von Identitätsentwürfen obsolet geworden ist und dass nicht nur in den Massen- und Luftgräbern von Auschwitz, sondern auch im alltäglichen Sozialkampf Individualität verloren gegangen ist, weiß man. Daraus nun freilich die Schlussfolgerung zu ziehen, es sei um das Individuum geschehen, scheint mir nicht zwingend. Eher plausibel hingegen die Schlussfolgerung, sich vehement gegen Einschüchterungs- und Verdummungsstrategien von Elitegesellschaften kritisch, radikal und rechtzeitig zur Wehr zu setzen.

Davon nun freilich liest man nichts in den derzeit üblichen Abgesängen an das Individuum. Man sucht vielmehr, wie Kinder dies zu tun pflegen, nach der vermeintlichen Hand des Weisen – und folgt in der Regel der Spur des Rattenfängers. Und rattenfängerische Dummmacher sind all jene, die eine wie auch im- mer vereinfachte Sicht auf die Dinge anbieten. Die Purifikatoren der Wahrnehmung, sozusagen, mit ihren Last-minute-Infos, die Sie uns als Fakten verkaufen; die Erkenntnis-Minimalisten, die ihre Defizite zu unserer Realität machen; die Fast-fun-fit-Fetischisten und ihre halb-automatischen Eventreflexe; all diejenigen, die mit Killer-Phrasen und Schmalspur-Ideen Ambivalenzen tilgen und komplexe Wirklichkeiten zurechtstutzen.

Schaffen wir uns Denk- und Wahrnehmungsraum. Eigenen. Jeder für sich. Bahnen wir uns den Weg zu unserer Wirklichkeit. Denn es gibt eine Wirklichkeit im Diesseits. Eine Wirklichkeit jenseits der leicht verderblichen Instant-fix-Angebote auf dem Medienmarkt. Wir müssen lernen, uns in unserem eigenen, banalen, gemischten Da-Sein einzurichten: jeder auf eigene Rechnung, mit allen Sinnen und Mut zur Ent-Täuschung.

Aus „Beiträge der Fachhochschule Pforzheim Nr. 94“

Prof. Dr. Jürgen Wertheimer, Lehrstuhl für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und Komparatistik an der Universität Tübingen