Früher konnte man noch lustvoll verlottern. Heute macht sich schon verdächtig, wer sich einmal gehenlässt
Der Rebell hat sich zu Tode rebelliert. Warum unser Biedermeier jenem der fünfziger Jahre gleicht.
Ein Kommentar von Paul Jandl, Österreichischer Kulturjournalist aus Berlin
Die Frau von Herrn Novak hat es nicht leicht. An vielen Dingen hat sie ihr Vergnügen. Sie «möcht’ so gerne in der Gosse liegen». Sinnlos will sie sich besaufen «und mit einem Freudenmädchen raufen». Ausserdem auf der Liste: «Männer toll verbrauchen», «Marihuana rauchen». Alle diese Dinge. Aber da ist der Novak. Und der «lässt mich nicht verkommen». Das Wiener Chanson vom irdischen Über-Ich namens Novak ist ein literarischer Klassiker scheiternder Ausschweifungen. Es erzählt von der fürsorglichen Belagerung durch einen Spiesser: «Ob angezogen oder als a nackter / Der Novak hat am ganzen Leib Charakter.»
In den fünfziger Jahren, als das Lied entstand, war Charakter ein Versuch, Haltung zurückzugewinnen. Aufrecht in neue Zeiten zu schreiten, obwohl in den Genen noch die alten steckten. Davon erzählt das zeitsatirische Chanson «Der Novak lässt mich nicht verkommen» am Rande. Es ist politisch höchst unkorrekt und wurde ausserdem von einer Frau gesungen. Von Cissy Kraner, die auch später noch mit manchem «succès de scandale» reüssierte.
In den ganz neuen Zeiten, in den heutigen, hört man vom «succès de scandale» nur noch wenig. Künstlerisch tätige Frauen, die sich sinnlos besaufen, würden mittlerweile schnell in der Beschimpfungsgosse sozialer Netzwerke landen. Der schöne Luxus der Verlotterung kann ins Elend führen. Wer sich vergisst, den kann man vergessen. Dass das Biedermeier des 21. Jahrhunderts den fünfziger Jahren des letzten möglicherweise sogar ähnlich sieht, kann jedenfalls nicht ausgeschlossen werden.
Voll von Esprit und Sprit
Die niederländische Psychologin und Schriftstellerin Marian Donner hat jetzt «Das kleine Buch der Selbstverwüstung» geschrieben (Ullstein-Verlag, 160 S., Fr. 19.90), das aber alles andere als eine Anleitung in Sachen Exzess ist. Was Donner über ihre eigenen Ausschweifungen erzählt, lässt den Leser vergleichsweise ungerührt. Früher einmal war wohl Alkohol im Spiel, aber dann kam ein Kind. Als junge Frau hat die Autorin in der Telefonzentrale einer Escort-Agentur gearbeitet und später für NGO und in der Politik. Nichts Aufregendes. Vielleicht richtet sich ihr Blick deshalb ganz unaufgeregt auf eine Gesellschaft, die die Selbstvervollkommnung des Menschen propagiert und um alles vermeintlich Verkommene einen grossen Bogen macht.
In sanfter Nostalgie sind all jene beschrieben, deren Esprit vorwiegend aus Sprit bestand. Aus künstlerischem Drang und Drogen. Die Bukowskis, Baudelaires und de Beauvoirs. Wer wissen will, wie party hard geht, der soll sich einmal anschauen, was die Existenzialisten so getrieben haben. Sartre bedankte sich für den lebenspendenden Alkohol mit ganzen Elogen, seine Leber dankte es ihm mit Zirrhose.
Die Dichter und Denker haben ihre Selbstverwüstung vor den Augen aller Öffentlichkeit vorangetrieben, aber heute würden dabei selbst Pop-Stars an den Pranger der Scham gestellt. Alles ist sauber. Auch die Rolling Stones sehen auf einmal sehr gesund aus. Rebellion und ihr Scheitern hat es immer gegeben. Als der aufsässige Schriftsteller Nathaniel Lee 1684 ins Irrenhaus gebracht wurde, quittierte er das mit dem Satz: «Sie sagten, ich sei verrückt, und ich sagte, sie seien verrückt, und verdammt noch mal, sie haben mich überstimmt.»
Der Rebell hat sich mittlerweile vielleicht zu Tode rebelliert. «Rebellen kaufen sich ein T-Shirt mit ‹The Clash›-Aufdruck bei H&M», schreibt Marian Donner und beklagt wohl zu Recht, dass sich Aussenseitertum heute kaum noch rechnet. Im Beruf kann man es nicht mehr kapitalisieren und immer weniger sogar in der Kunst. Wo die Anpassung zur Lebensleistung wird, dort führt die Devianz, die Abweichung, nur noch in die Sackgasse.
Orwell hört mit
Marian Donner skizziert ein Modell, in dem ausgerechnet Begriffe wie «Selbstfürsorge» dafür sorgen, dass die Anpassung als möglichst angenehm empfunden wird. Die Eingriffe der plastischen Chirurgie in das Aussehen der Menschen sind das sichtbarste Beispiel für die Erosion des Individuellen. Im Zeitalter der Normierung werden die Grenzen des Normalen immer enger gezogen, und alles Überflüssige wird ausgetrocknet.
Argumentativ ist es kein sehr weiter Schritt, zu zeigen, dass Überwachung und Selbstüberwachung mittlerweile den gleichen ideologischen Mustern folgen. Da ist jede Menge Orwell dabei. Wo früher die Kontrolle noch schrilles Zukunftsszenario war, scheint sie in unseren Versuchen der Selbstoptimierung wahr zu werden. Die Selbstverwüstung ist das Gegenteil davon, und wer für sie plädiert, rettet die Würde desjenigen, der sie planvoll verlieren möchte.
Gesundheit und Hygiene sind die Kriegsgebiete der neuen Ordnung, und wenn Marian Donner in ihrem Manifest dafür plädiert, dass wir mehr «stinken, trinken, bluten, brennen und tanzen sollten», dann klingt das esoterischer, als es ist. Es geht um eine Körperlichkeit, die sich, bei gegenseitigem Respekt der Menschen voreinander, weiter nicht dreinreden lassen will von den apokalyptischen Aposteln der Selbstreinigung. Es war nicht alles gut in früheren Zeiten, aber dass jetzt alles nichts mehr ist, kann auch nicht wahr sein.
Ein Recht auf Verlottern
Vielleicht brauchte es eine ganze Philosophie des Verkommens. Ein strategisches Aufbegehren gegen das, was sich in der einförmiger werdenden Welt des Begehrens gerade tut. Wir müssen gelegentlich verlottern dürfen, damit den Nachtwächtern der Moral ein Licht aufgeht, und wer nicht durch Ausschweifung den Radius seiner Weltkenntnis erweitert, macht die Räume eng. Das war schon der «rebel yell» der Frau Novak, die gegen die Fürsorge der Gutmeinenden opponierte.
Man verlangt ja nicht viel mehr als gelegentliche Berauschung. Womit auch immer. Was wären wir ohne die Lust? Die Lust der Selbstverwüstung, selbst wenn sie nur Phantasie ist? «Ich möchte Austern mit der Schale essen / Ich möcht’ mit einem Walfisch mich vergessen / Ich hab’ mir das schon alles vorgenommen / Aber der Novak lässt mich nicht verkommen. // Der Novak ist zwar einerseits ein Segen / Doch and’rerseits lässt er mich nicht bewegen.»
Beitrag
Paul Jandl, geboren 1962 in Wien, seit 2010 bei der deutschen Tageszeitung DIE WELT
